J. Peirano: Der geheime Code der Liebe: Mein Freund hat ganz andere soziale Regeln als ich, wir geraten immer wieder aneinander

  • Mai 22, 2025

Mihra L. beschreibt Situationen, die in ihrer Beziehung zu Unbehagen führen – und immer scheint sie die Schuld zu tragen. Julia Peirano dreht den Spieß um und findet die tatsächliche Ursache.

Liebe Frau Peirano,

ich bin Mihra, 26, und komme aus Bosnien. Ich bin in einer sehr strengen, aber liebevollen Familie aufgewachsen. Meine Eltern waren beide Einwanderer und Arbeiter, sie haben sich hier eine Existenz aufgebaut. Ich musste immer brav sein, gut in der Schule, den Deutschen zeigen, dass ich es schaffe. Und wenn nicht, gab es auch mal strenge Worte oder eine Backpfeife.

Ich bin seit zwei Jahren mit einem Deutschen zusammen, Frederick, der ganz anders aufgewachsen ist. Er durfte alles, zumindest kommt es mir so vor, und ist eher ein Freigeist (Hippiel-Mutter, Waldorf-Schule, der Vater kam ab und zu vorbei und verwöhnte ihn dann). 

Wir streiten uns immer wieder, weil er mich oft verletzt. Ein paar Beispiele: Wir sind auf dem Wochenmarkt zusammen, und da dort so lange Schlangen waren, haben wir uns getrennt. Er ging zum Bäcker, ich zum Gemüsestand. Irgendwann suchte ich ihn, ging dreimal über den Markt und fand ihn nicht. Er ging auch nichts ans Handy. Ich war völlig aufgelöst. Zwanzig Minuten später rief er mich zurück und sagte, er sei in einem Café drei Straßen weiter. Ich habe ihm vorgeworfen, dass er mir nicht Bescheid gesagt hat und ich ihn gesucht habe. Er meinte, er sei mit den Einkäufen fertig gewesen und hätte Lust auf einen Cappuccino gehabt. Letztlich stellt er es dann so dar, als wäre ich nicht ganz normal oder überempfindlich, weil ich mich so aufgeregt habe.

Ein anderes Beispiel: Wir sind bei Freunden zu einer Party eingeladen, jeder soll etwas mitbringen. Ich frage genau nach, was erwünscht ist und kümmere mich darum (ein spezieller Kuchen, den ich gebacken habe). Mein Freund kommt vor der Party zu mir und fragt mich, ob ich irgendwo noch eine Flasche Wein habe, die er mitbringen kann.

Oder: Wir bestellen uns Essen. Er bestellt eine große Pizza für uns beide und sagt zu mir, dass ich nicht so viel bestellen soll. Ich hatte also Nachtisch und Getränke für uns beide besorgt. Dann fange ich an, von der Pizza zu essen, und nach dem dritten Stück sagt er mir, dass er auch etwas davon abhaben will. Ich war total verletzt, weil es mindestens 12 Stücke waren und die Pizza ja für uns beide war. Irgendwie hat er dann zugegeben, dass er sie eigentlich für sich selbst bestellt hatte oder plötzlich doch mehr Hunger bekommen hatte, als er dachte.

Oder: Er will bei mir übernachten und sagt, dass er gegen 20 Uhr kommt. Dann höre ich nichts bis 21 Uhr und rufe ihn an. Er sagt, er würde sich gleich auf den Weg machen (der Weg dauert maximal 15 Minuten). Dann ist es 22 Uhr und er ist immer noch nicht da, obwohl ich mich eigentlich um 22 Uhr, spätestens 22.30 Uhr bettfertig mache. Wenn ich ihn dann anrufe, nimmt er nicht ab oder reagiert genervt und fragt, warum ich denn so drängel.

Einmal hat er sich Essen gekocht und ist mit der Schüssel, in der das Essen war, auf der Straße gegangen und hat dabei gegessen. Mir war das total peinlich und ich habe ihm gesagt, dass sich das nicht gehört. Er fand das spießig und hat mich ausgelacht. Als ich dann etwas weiter von ihm weggegangen bin, war er beleidigt.

Wir diskutieren und streiten stundenlang darüber, aber es löst sich nicht auf. Es passiert immer wieder etwas, und er wirft mir vor, ich sei total streng, kontrollierend und überempfindlich.

Ist das wirklich so? Und was können wir machen, damit wir eine Lösung finden?

Herzliche Grüße
Mihra L.

Liebe Mihra L.,

ich kann mir vorstellen, dass die Situationen mit Ihrem Freund, die Sie beschreiben, Sie sehr verunsichern und verstören. Sie sind als Kind von Einwanderern aufgewachsen, und Ihre Eltern haben sich anscheinend große Mühe gegeben, sich anzupassen und zu integrieren. Sie wollten, dass Sie als deren Tochter ebenfalls Erfolge haben: Sie sollten gut erzogen sein, keine Fehler machen, nicht anecken und in der Schule Leistungen erbringen. Und wenn Sie das nicht gemacht haben oder sich Fehler erlaubt haben, gab es strenge Worte oder sogar eine „Backpfeife“.

Ihnen ist also von früh an in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie sich anpassen, an Regeln halten und funktionieren müssen. Und ich weiß nicht, wie sehr die „Backpfeifen“ und die strengen Worte Sie verängstigt haben, aber es kann sein, dass Sie ständig versuchen, nichts falsch zu machen, um nicht wieder geschlagen oder beschimpft zu werden.

Ihr Freund ist in diesem Punkt das genaue Gegenteil. Er hält sich nicht gerne an Spielregeln, findet es sogar cool, diese so sehr zu missachten, dass er nicht einmal anerkennt, dass es diese Spielregeln überhaupt gibt.

Ein  persönliches Beispiel: Ich hasse es aus tiefstem Herzen zu basteln. Geschenke einpacken fällt für mich unter diese Kategorie. Ich weiß, dass es eine soziale Spielregel ist, dass Geschenke schön eingepackt werden müssen. Da ich vom Einpacken schlechte Laune kriege, breche ich die Spielregel. Entweder packe ich die Geschenke für meine Familie in ein Seidentuch, knote das schnell zu und verlange das Seidentuch nach dem Auspacken zurück. Meine Familie hat sich daran gewöhnt. Oder ich packe das Geschenk in Zeitungspapier ein.

ABER: Ich weiß, dass ich eine soziale Regel breche und erkläre das auch den Beschenkten, damit sie es verstehen. Und damit ist die Situation bereinigt, weil klar ist, dass es diese Regel gibt und ich sie kenne, aber aus guten Gründen nicht befolgen will. 

Ihr Freund hingegen tut so, als würde es diese sozialen Regeln nicht geben, als würden Sie sich diese einbilden oder sie einfordern, um ihn einzuengen. Ich kannte zum Beispiel mal einen Mann, der ernsthaft seiner Frau unterstellte, dass sie die Hamburger Schulferien absichtlich immer in einen Zeitraum legte, der ihm überhaupt nicht in den Kram passte. Sie erwiderte dann halb im Ernst, halb im Spaß, dass er mal sein Raumschiff auf der Erde landen sollte … Ein guter Rat! 

Es ist gut, dass Sie Beispiele geschildert haben, damit ich mir vorstellen kann, worum genau es geht. In allen Situationen kann ich Ihnen sagen, dass Ihr Freund sich die Situation so biegt, wie es ihm gerade passt und dabei wenig Rücksicht auf Sie nimmt.

Zur Marktsituation: Es ist eine Spielregel, dass man einen Ort (z.B. eine Party, einen Markt oder Supermarkt, ein Krankenhaus) nicht einfach verlässt, ohne dem anderen vorher Bescheid zu sagen oder das vorher abzusprechen. Auch Kindergartenkinder lernen schon genau, in welchem Areal sie sich frei bewegen dürfen (auf der Wiese im Freibad, auf dem ganzen Spielplatz), aber sie dürfen auf KEINEN FALL alleine weggehen. Das gilt auch für uns Erwachsene. Wir müssen uns absprechen, wo wir uns wiedertreffen wollen und uns daran halten.

Und käme mal ein Notfall, z.B. dass einem übel wird und man eine Toilette finden muss, sollte man schnellstmöglich per Handy Bescheid sagen, damit der andere sich keine Sorgen macht und nicht suchen muss. Eigentlich erleichtern Handys es, sich wiederzufinden, man kann ja sogar Live-Standorte schicken. Aber Ihr Freund schaltet das Handy aus und verschwindet von der Bildfläche, um in Ruhe Cappuccino zu trinken, während Sie ihn suchen.

Zur Situation mit der Party: Wenn es gewünscht ist, etwas zu einer Party mitzubringen, sollte man das auch tun. Das ist eine allgemeine Spielregel, die auch schon in der Schule gelehrt wird. Sie sollten also als Paar untereinander regeln, wer sich darum kümmert, und das sollte ausgewogen sein. Da kann es natürlich die Absprache geben, dass Sie sich verantwortlich fühlen, wenn es Ihre Freunde sind und Ihr Freund sich bei seinen Freunden darum kümmert. Sie schrieben nicht, wessen Freunde es waren, die Sie eingeladen haben. Aber Ihr Freund kümmert sich um seinen Tribut, indem er von Ihnen eine Weinflasche erbittet, die Sie von Ihrem eigenen Geld gekauft und in Ihrer Freizeit herangeschleppt haben. Und das ist etwas dreist. Ich kann verstehen, dass Sie sich ärgern!

Zur Situation mit der Pizza: Wenn Sie gemeinsam essen bestellen und planen, dann sollte das Essen auch beiden zur Hälfte gehören. Es sei denn, einer beansprucht im Vorfeld Essen nur für sich (zum Beispiel: Ich möchte einen ganzen Schokopudding oder ein Sojaschnitzel essen – willst du auch eins?).

Ihr Freund hat die Pizza erst für beide bestellt und dann im Alleingang beschlossen, dass er sie eigentlich doch am liebsten für sich hätte. Das hat er aber nicht zugegeben und gefragt, wie Sie damit umgehen sollten (z.B. noch eine Pizza bestellen oder absprechen, wie viel Sie essen möchten und ob es ok wäre, wenn er sich etwas mehr nimmt). Sondern er hat Sie eingeschränkt und Ihnen unterstellt, Sie könnten nicht fair teilen, indem er schon nach dem dritten Stück sagt, dass er etwas abhaben möchte. Und das unterstellt Ihnen ja, dass Sie nicht selbst auf gerechtes Teilen achten und sich ohne seine Mahnung mehr als die Hälfte nehmen würden. Ich kann verstehen, dass Sie das verletzt, weil Sie ja großen Wert darauf legen, sich an Regeln zu halten! Indirekt unterstellt er Ihnen Gier und Ungerechtigkeit (was eher auf ihn selbst in dieser Situation zutrifft als auf Sie).

Zur Situation mit dem Zuspätkommen: Auch hier hält er sich nicht an die soziale Regel, pünktlich zu sein, oder zumindest Bescheid zu sagen, wenn man zu spät kommt. Er ignoriert Ihre Tagesabläufe und dreht auch noch das Täter-Opfer-Verhältnis um. Eigentlich müsste er sich entschuldigen, dass er Sie mehr als zwei Stunden (!) warten lässt und fragen, ob sein Besuch noch erwünscht ist. Aber er nimmt sich auf Ihre Kosten alle Freiheiten und schiebt Ihnen noch den Schwarzen Peter zu, indem er Sie als kontrollierend und kleinkariert bezeichnet.

Zur Situation mit der Schüssel auf der Straße: Aus einer Schüssel auf der Straße Essen in sich hinein zu löffeln ist definitiv ein Bruch der Benimmregeln. Es geht ja nicht um einen Schokoriegel oder ein Eis, sondern um Essen im Gehen. Ihr Freund könnte diesen Regelbruch zumindest anerkennen und testen, wie Sie dazu stehen. Wenn es Ihnen nichts ausmachen würde oder Sie es sogar lustig fänden, wäre das ja in Ordnung. Aber Sie sind offensichtlich peinlich berührt. Sie schämen sich stellvertretend für ihn, und auch da dreht er wieder die Opfer-Täter-Konstellation um und tut so, als würden Sie etwas falsch machen oder sogar falsch sein, nämlich überempfindlich. Er ändert nichts an seinem Verhalten und stimmt es so mit Ihnen ab, dass Sie beide zufrieden sind, sondern er straft Sie ab und ist beleidigt.

Letztendlich sieht es so aus, als wenn immer die Schuld an Ihnen hängen bleibt, weil er sie Ihnen in die Schuhe schiebt, und ich kann mir vorstellen, dass das für Sie sehr schwer zu ertragen ist.

Grundsätzlich haben Sie mit einem Freund, dem soziale Regeln so wenig bedeuten und der sich gerne und lässig darüber hinweg setzt, natürlich auch ein schweres Spiel. Für Sie sind soziale Regeln kein Gefängnis, aus dem Sie sich befreien wollen, sondern ein Gerüst, das Ihnen Sicherheit und Orientierung gibt.

In der Paarforschung wurde immer wieder der Satz bestätigt: Gleich und gleich gesellt sich gern.

Gegensätze ziehen sich zwar am Anfang oft an, aber auf Dauer führt es eher zu Konflikten, wenn man sehr unterschiedliche Gewohnheiten und Persönlichkeiten hat.

Herzliche Grüße
Julia Peirano

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